Ein Kommentar von Birgit Gärtner
Philippos Tsanis ist inzwischen verstorben. Er wurde noch eine Weile künstlich am Leben gehalten – weil er Organspender war und passende Empfänger gefunden werden mussten.
Der Junge, der brutal von einer Horde junger Männer um sein Leben gebracht wurde, das er größtenteils noch vor sich hatte, rettet also sogar noch posthum das Leben anderer.
Als Mensch, als ehemalige Mindenerin – das Ratsgymnasium haben auch Freunde von mir besucht und in Philippos Alter haben wir viel und gern in der Gegend gefeiert – als Mutter, deren Sohn dort geboren wurde und der sich ebenfalls als Jugendlicher in dem Raum bewegt(e), geht mir diese Tat sehr nahe.
Noch sprachloser als die Tat an sich, macht mich die Gleichgültigkeit, mit der die Allgemeinheit darüber hinweg geht. In der tiefsten Provinz prügelt eine Horde Gewalttäter einen jungen Mann zu Tode – und niemanden interessiert es.
Business as usual!
Oder lässt die Mehrheit das kalt, weil immer mehr Deutsche immer weniger Kinder haben – inklusive der Politikdarstellerinnen und Politikdarsteller in Berlin
Diese Gewalttat ist kein Einzelfall. Wir alle könnten Philippos Eltern oder Geschwister, Tanten, Onkel, Großeltern sein. Ist Euch das klar?
„Hanau ist überall!“ Diesen an einen Stromkasten gesprühten Spruch lese ich fast täglich auf dem Weg zur Bushaltestelle.
Dieser Spruch ist blanker Unsinn.
Hanau ist NICHT überall.
Ja, es gibt Rassismus und Diskriminierung. Viel zu viel – und leider bisweilen auch tödlich. In Hanau war es genau andersrum: Nicht zehn prügelten einen zu Tode, sondern ein Mann mit einem mehr als kruden Weltbild brachte aufgrund dessen zehn Menschen um.
Ein tragischer Fall, der aber eben – glücklicherweise – nicht Alltag ist.
Bad Qeynhausen indes ist überall. Philippos und sein Freund, der nicht so schwer verletzt wurde, sind nicht die einzigen, die am Wochenende Opfer brutaler Gewalt wurden.
Ich für meinen Teil möchte mich mit der immer alltäglicher werdenden Brutalität in aller Öffentlichkeit nicht abfinden, die wirklich jede und jeden treffen kann. Am Wochenende wurde beispielsweise irgendwo ein alter Mann von einem völlig Fremden vom Bahnsteig auf das Gleis geschubst, von den inzwischen Normalität gewordenen Messerstechereien gar nicht zu reden.
Auch Philippos hat übrigens den berühmten „Migrationshintergrund“. Anscheinend den falschen. Anders kann ich mir das ohrenbetäubende Schweigen der ansonsten immer lauten antirassistischen Szene nicht erklären.
Oder wäre die Reaktion eine andere, wenn die Täter als blond, blauäugig und akzentfrei deutsch sprechend beschrieben worden wären?
Philippos hat griechische Wurzeln. Griechinnen und Griechen gibt es seit eh und je in Minden. Als ich ungefähr so alt war wie Philippos geworden ist, machte der wohl erste ausländische Gastrobetrieb in Minden überhaupt auf: Der griechische Imbiss neben dem Weser-Kolleg, oben an der Martini-Treppe. Noch heute habe ich den Geschmack der Pita auf der Zunge.
Wenn wir schick essen gehen wollten, ging es in die „Alte Münze „am Friedenplatz, ebenfalls seit eh und je ein griechisches Lokal.
Vielleicht waren italienische Restaurants früher als griechische da, aber die griechische Küche hat uns alle genauso geprägt. Lange, bevor es an jeder Ecke Döner zu kaufen gab. Wogegen natürlich an sich auch nichts einzuwenden ist. Der Siegeszug von „Halāl“-Food und damit verbunden die Etablierung eines Lebensstils wie in Saudi-Arabien, ist ein anderes Thema.
Der Klimawandel soll aufgehalten werden, um der Jugend eine Zukunft zu ermöglichen. Bevor wir uns an das Unmögliche machen, sollten wir vielleicht der Gewalt im öffentlichen Raum Einhalt gebieten. Damit unsere Kinder und Enkelkinder, Nichten und Neffen, oder Nachbarskinder gefahrlos feiern, Bahn fahren oder in die Schule gehen können.
RIP Philppos!
Dein Tod mahnt mich, nicht aufzuhören, diese Gewalt anzuprangern.
Autoreninfo:
Seit über vier Jahrzehnten widmet sich Birgit Gärtner journalistisch und publizistisch den Themen Faschismus, Antifaschismus, Kurdistan und der Türkei, stets mit einem Fokus auf die deutsche Perspektive. Mit über 25 Jahren Berufserfahrung beleuchtet sie diese komplexen Themenbereiche tiefgreifend und aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
Gärtners journalistische Laufbahn ist eng mit ihrer Heimatstadt Hamburg verbunden. Dort studierte sie politische und feministische Soziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP) und legte den Grundstein für ihre engagierte Berichterstattung. Als Mutter eines erwachsenen Sohnes vereint sie ihr berufliches und privates Leben in der Hansestadt.
Neben ihrer journalistischen Tätigkeit hat sich Gärtner als Autorin einen Namen gemacht. Ihr Buch Wir leben trotzdem: Esther Bejarano – vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Künstlerin für den Frieden: Esther Bejarano, vom Mädchenorchester in … Bundesrepublik (Bibliothek des Widerstandes)““, erschien im Jahr 2007.
Gemeinsam mit einer Kollegin betreibt sie den Blog „Frauenstandpunkt„
Redaktioneller Hinweis::
Kommentare geben grundsätzlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und nicht die der Redaktion
Liebe Frau Gärtner,
auf der Suche nach Meldungen über diesen Fall, abseits von X (Twitter), wurde mir Ihr Artikel angezeigt! Ich hoffe, Sie freuen sich, falls Sie diesen Kommentar lesen. Danke für Ihren zutiefst menschlichen (im positiven Sinne), kritischen und vor allem (so sehe ich das zumindest) ideologie- und framingfreien Text. Nicht nur die Tat ist entsetzlich, auch das Schweigen darüber. Egal, ob vorsätzlich, aus Angst vor möglichen Repressalien, aus einer einseitigen Betrachtungsweise heraus oder aus Gleichgültigkeit. Dieses Schweigen ist grauenhaft. Was mich besonders betroffen macht: Wo bleibt die zuhauf geäußerte Sorge und damit das Einstehen für eine sichere Zukunft der Kinder und Jugendlichen in diesem Land? Fragen über Fragen. Sie sehen hin. Sie rütteln auf. Sie erwähnen die mögliche besondere Brisanz des Falls aufgrund der griechischen Wurzeln des bedauernswerten Opfers. Welch journalistischer Lichtblick abseits der (vom Mainstream so gern unisono verteufelten) alternativen Medien, die ebenfalls berichten. Danke für Ihren unvoreingenommen, umfassenden Blick und weiterhin alles Gute.
Hallo Adele, vielen lieben Dank für das nette Feedback. Mich hat dieser Fall sehr berührt, weil ich dachte: „Es hätte Dein Sohn sein können“. Dann fiel mir ein: Nein, hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Es gab und gibt viele Gefahren für Jugendlich, Drogen, Unachtsamkeit, Überschätzung beim Auto- oder Motorrad fahren, aber vor knapp 20 Jahren gehörte in einem öffentlichen Park zu Tode geprügelt zu werden nicht dazu. Jedenfalls nicht im Kurpark Bad Qeynhausen. Prügeleien, Gewalt, auch brutale Attacken, gab es auch damals, Letzteres aber als absolute Ausnahme, nicht als einzukalkulierendes Risiko. Um Cybergrooming, -mobbing und -pornographie mussten wir uns damals noch keine Gedanken machen. 30 Jahre lang habe ich im Landkreis Minden-Lübbecke und zuletzt dessen „Hauptstadt“ gelebt, ohne dass ich je erlebt hätte, dass jemandem aus meinem Umfeld ein ernsthaftes Gewaltverbrechen zugestoßen wäre. Auch in den Zeitungen war davon nichts zu lesen. Gewalt war in erster Linie Milieu-Gewalt und örtlich begrenzt. Mir ist ein Fall bekannt, bei dem bei einem Fußballturnier ein junger türkischer Spieler mit einem Messer attackiert wurde. Eine eindeutig rassistisch motivierte Tat – auf dem Bolzplatz in meinem Heimatdorf. Aber das war eine absolute Ausnahme. Und genau da müssen wir wieder hinkommen. Schwere Gewaltverbrechen lassen sich leider nicht komplett aus der Welt schaffen, aber eindämmen. Dazu müssen wir sie aber zunächst einmal zur Kenntnis nehmen. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass der Anteil von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden bis 20 Jahren an den Tatverdächtigen stark angestiegen ist, nachdem dieser bis 2015 kontinuierlich gesunken war. Auch damit müssen wir uns auseinandersetzen – unvoreingenommen und umfassend. Also, nochmal danke und liebe Grüße aus dem hohen Norden