MInden(mr/sm). „Der ganz normale Wahnsinn“ ist der Titel einer deutschen Fernsehserie, einer US-Filmkomödie und eines Albums von Udo Jürgens. Ganz und gar verborgen spielt sich derzeit der „ganz normale Wahnsinn“ im Mindener Rathaus ab. Dieses ist allerdings keine Komödie, sondern der harte Alltag eines Teams, das in diesen Wochen und Monaten nahezu alles gibt, ständig im Einsatz ist und auch an den Rand der Belastbarkeit kommt.
Es ist das Team um Hartmut Kuhlmann, der seit 1991 bei der Stadt Minden beschäftigt ist. Er arbeitet zusammen mit 13 weiteren Kolleginnen und Kollegen im Bereich 3.32 – Obdachlosenbetreuung, Unterbringung von Aussiedler, Flüchtlingen und Obdachlosen. Was von der Bezeichnung her nach einer ganz normalen Aufgabe klingt, ist in Wirklichkeit aktuell wohl der aufregendste, aber auch aufreibendste Job der Stadtverwaltung.
Denn dieses Team hat die Aufgabe, bis zu 90 Asylsuchende wöchentlich in Wohnungen oder Gemeinschaftsunterkünften unterzubringen, Möbel, Matratzen, Töpfe und Geschirr zu besorgen, Wohnungen mit dem Nötigsten auszustatten, diese vorher zu sichten und mit Eigentümern über die Miete zu verhandeln. Es müssen Belegungspläne erstellt, Gruppen für Wohngemeinschaften zusammengestellt und mittlerweile rund 170 angemieteten Wohnungen auch verwaltet werden. „In Kürze stehen hier beispielsweise die Nebenkostenabrechnungen an“, berichtet Hartmut Kuhlmann. Auch leistet das Team Sozialarbeit, beschäftigt Hausmeister und ist insgesamt erster Ansprechpartner für die neu Angekommenen. Eine Verständigung ist meist nur auf Englisch möglich, Deutsch verstehen viele nicht. So wird auch viel mit Händen und Füßen geredet. Meist ist jemand dabei, der Englisch versteht und in die Landessprache für die anderen Flüchtlinge übersetzt.
An mindestens drei Tagen in der Woche kommen Busse mit Flüchtlingen derzeit in Minden an. Der „ganz normale Wahnsinn“ beginnt meist vormittags. Dann ist das neu eingerichtete „Willkommenszimmer“ im Rathaus die erste Station für die an die Stadt Minden zugewiesenen Asylsuchenden. Diese können sich hier mit Heißgetränken aus einer gespendeten Kaffeemaschine und Kaltgetränken nach der oft Stunden dauernden Busfahrt versorgen. Für Kinder haben die Koordinatorinnen in der ehrenamtlichen Flüchtlingsunterstützung, Sewin Aro und Selvi Arslan-Dolma, eine kleine Spielecke eingerichtet. Hartmut Kuhlmann und eine Kollegin heißen die Gruppe „herzlich Willkommen“ und erklären auf englisch die weiteren „Stationen“ im Rathaus: das Servicebüro der Ausländerbehörde, wo die vorhandenen Papiere kopiert und ein Beratungstermin vergeben wird, sowie der Bereich Asyl, wo die Flüchtlinge eine Abschlagszahlung in bar erhalten, die es in der Regel zweimal monatlich gibt. Rund 325 Euro an Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhält eine einzelne Person pro Monat für den Lebensunterhalt. Miete, Nebenkosten und Strom trägt die Stadt Minden für die Flüchtlinge in den von ihr angemieteten Wohnungen und Gemeinschaftsunterkünften.
Viel Zeit kann sich Hartmut Kuhlmann für die „Neuen“ an diesem Montag nicht nehmen, denn schon auf dem Flur stehen weitere Asylsuchende, die bereits am Freitag zuvor angekommen sind und viele Fragen haben. Dazwischen muss er sich noch um einen Flüchtling kümmern, der versehentlich in Minden ausgestiegen ist und eigentlich nach Bottrop sollte. Dieser muss nun eine Nacht in der Mindener Notunterkunft verbringen und fährt morgen weiter zum eigentlichen Ziel. Während Hartmut Kuhlmann mit dem Klinikum telefoniert, wo ein Asylsuchender nach einer Untersuchung abgeholt werden muss, taucht ein wirklich komplizierter Fall auf: Ein Mann, der mit seinem Sohn seit einigen Wochen in einer kleinen Wohnung lebt, steht im Flur und strahlt. „Er hat immer nur von seiner Frau, er nach Minden holen will, gesprochen“, berichtet Kuhlmann, der den Mann und seinen Sohn kennt. Doch plötzlich sind da neben der Ehefrau noch vier kleine Kinder mitgekommen, die offenbar alle ebenfalls zur Familie gehören.
Wie sich nach 15 Minuten herausstellt, als die Familie das Servicebüro der Ausländerbehörde verlässt, hat sich die Frau mit den vier Kindern aus einer Notunterkunft in Bayern eigenständig abgesetzt: Sie ist in Erding registriert. Das hieße eigentlich, dass die Minden(mr/sm). Frau und die vier Kinder nach Bayern zurück müssen, weil in Minden nur Flüchtlinge aufgenommen werden können, die in Nordrhein-Westfalen registriert und von der Bezirksregierung Arnsberg offiziell zugewiesen wurden, so Kuhlmann. Das System sieht Familienzusammenführungen von Flüchtlingen, die in unterschiedlichen Bundesländern registriert wurden, erst vor, wenn das Asylverfahren eingeleitet ist – eigentlich. Der Fall lässt sich so schnell nicht lösen. So muss die an diesem Tag deutlich gewachsene Familie zunächst in der kleinen Wohnung, die nur für Vater und Sohn bestimmt war, ganz eng zusammen rücken. Am nächsten Tag soll sie erneut in das Servicebüro der Ausländerbehörde kommen. Wie ging die Geschichte weiter? Die Frau und die vier Kinder sind am nächsten Tag nach Bielefeld in die dortige Erstaufnahmeeinrichtung gebracht und mittlerweile registriert worden. Nun warten sie auf die offizielle Zuweisung nach Minden.
Die 13 Flüchtlinge, die am späten Freitagnachmittag angekommen und behördlich in Minden noch nicht erfasst wurden, tummeln sich derweil auf dem engen Flur vor dem Servicebüro, 15 weitere warten im „Willkommenszimmer“. Eine Familie aus Syrien mit einem kleinen Kind und viel Gepäck ist dabei, alle anderen sind alleinstehende junge Männer – vorwiegend aus Syrien, Afghanistan und Albanien, aber auch einige aus Bangladesch und Pakistan. Viele wollen wissen, ob sie in eine Wohnung gebracht werden. „Nein, Wohnungen bekommen in Minden derzeit nur Familien, Einzelpersonen werden in der Regel in Gemeinschaftsunterkünfte gebracht. Die Lage ist schwierig“, erklärt Hartmut Kuhlmann.
Die Enttäuschung in manchen Gesichtern ist deutlich zu sehen. Einige berichten, dass ihnen im Heimatland versprochen wurde, dass sie alle in Deutschland eine Wohnung bekommen. Doch das war einmal – nicht nur in Minden. Für Alleinstehende gibt es derzeit nur Gemeinschaftsräume in größeren Unterkünften sowie Klassenzimmer. Es wird nach einiger Zeit angestrebt, wenn klar ist, wer gut miteinander auskommt, Wohngemeinschaften zu bilden und diese Asylsuchenden auch individuell unterzubringen, aber das kann dauern. „Wir haben es bis heute geschafft, allen Familien eine Wohnung zu geben“, verkündet Kuhlmann stolz. Doch auch hier zeichnet sich für die nächsten Wochen ein absoluter Engpass ab, obwohl die Stadt 24 Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus angemietet und einen erfolgreichen Aufruf an Haus- und Wohnungseigentümer gestartet hat. Hier gab es viele Rückmeldungen, die noch abgearbeitet werden.
Die drei Kollegen, die für die Beschaffung zuständig sind und zum Teil auch aus anderen Dienststellen für diese Aufgabe „abberufen“ wurden, kommen kaum nach, angebotene Wohnungen zu besichtigen, mit den Eigentümern über Mieten zu verhandeln und dann auch noch schnellstmöglich einzurichten – bei durchschnittlich 50 bis 80 ankommenden Flüchtlingen wöchentlich. Rund 750 Asylsuchende sind der Stadt Minden in diesem Jahr bereits zugewiesen worden, knapp 100 sollen es noch sein. „Aber diese Zahl verändert sich seit drei Wochen nicht. Das Soll beträgt immer noch 100“, berichtet Achim Hermening, Leiter des Bereiches Soziales. Je mehr Flüchtlinge NRW nach dem so genannten „Königsteiner Schlüssel“ aufnimmt, umso mehr Menschen müssen auch auf die Kommunen verteilt werden. Jeder trägt sein Scherflein dazu bei und viele haben mittlerweile die gleiche Not wie Minden, es zu schaffen, allen ein Dach über dem Kopf zu bieten.
Die 13 Flüchtlinge vom Freitag und auch die 15 neuen an diesem Montag angekommenen bekommen heute im Bereich Asyl einen Scheck und kein Bargeld. Eine Mitarbeiterin ist krank, die Personaldecke dünn, so dass alle Flüchtlinge von einer Auszubildenden und einer Kollegin zur Hauptgeschäftsstelle der Sparkasse begleitet werden, um hier ihr Bargeld in Empfang zu nehmen. Die 13 vom Freitag dürfen in ihre Unterkunft zurück, für die 15 vom heutigen Tag geht es zurück ins Rathaus, wo Petra Steinmann inzwischen den mehr als 30 Jahre alten, roten Bully startklar hat, um zunächst die kleine Familie aus Syrien in eine Wohnung zu bringen. Die übrigen Asylsuchenden warten derweil im „Willkommenszimmer“.
Die Familie ist glücklich über die neue Unterkunft, hilft beim Ausladen des Gepäcks mit und bedankt sich mehrmals. Nach einer kleinen Einweisung und einer Unterschrift für die übergebenen Wohnungsschlüssel lässt Petra Steinmann die drei zunächst allein zurück. Später bringt sie noch ein Kinderbett nebst Bettwäsche vorbei. „Normalerweise besuche ich die Familien ein paar Tage später und schaue, ob sie sich gut eingelebt haben“, berichtet die Mitarbeiterin. Aber nicht immer schafft sie es, zeitnah bei den Familien vorbeizuschauen, wo nahezu täglich neue Flüchtlinge ankommen. In den Gemeinschaftsunterkünften kümmern sich Sozialarbeiter um die jungen Männer, die jeden Tag neue Fragen haben, einen Arzt oder sonstige Hilfe brauchen.
Der nächste Transport geht mit sechs Flüchtlingen in eine Gemeinschaftsunterkunft. Vor Ort stellt sich heraus, dass zwar die Doppelstockbetten aufgebaut wurden, aber noch Matratzen dafür fehlen. Als die übrigen sechs jungen Männer auch angekommen sind, werden alle zwölf von einer Sozialarbeiterin in Empfang genommen. Petra Steinmann macht sich derweil auf den Weg in ein Einrichtungshaus, wo vorbestellte Matratzen abgeholt werden können. 20 passen aufgerollt locker in den Bully der Stadt. „Wir könnten auch andere Matratzen bestellen, die möglicherweise ein wenig günstiger, aber auch wesentlich unhandlicher sind“, erklärt sie. Personal ist knapp. So be- und entlädt sie den Bully in der Regel allein, wenn noch etwas spontan besorgt werden muss, wenn Töpfe, Geschirr oder Handtücher fehlen. In der Gemeinschaftsunterkunft angekommen, helfen die Flüchtlinge mit, die Matratzen auf die Zimmer zu bringen.
Keine Fahrt wird an diesem Tag ohne „Fracht“ gemacht. Und so lädt Petra Steinmann drei große Pappkartons mit Verpackungsmaterial ein. Hierin waren die Bettdecken, Kissen und die Bettwäsche für Neuankömmlinge verstaut. Die Kartons werden im Anschluss zum Recyclinghof gebracht. Auf der Rückfahrt ist noch etwas zu erledigen: das Kinderbett für die syrische Familie muss aus einem Lager, das die Stadt Minden vor einigen Wochen angemietet hat, abgeholt werden. Schnell ist der Karton mit den Kinderbetten und die dazugehörige Bettwäsche gefunden. Im Nachbarraum stapeln sich Waschmaschinen, Küchenteile, Herde und Töpfe für die noch einzurichtenden Wohnungen auf Paletten. Vorratshaltung ist angezeigt. Spontankäufe von Matratzen, Doppelstockbetten und Küchenzeilen führen oft ins Leere, da die Lager bei nahezu allen Möbelhäusern leergekauft sind – von den Kommunen, die täglich den „ganz normalen Wahnsinn“ meistern müssen.